Crystal Talk
Text: Benedikt HotzeFotos: Hans-Peter Böning, Fred Plassmann (Stills)

Profil

Profil graft


In der Nummer 52 gibt es Massagen: „Bei Grafe klingeln“. Knapp daneben. Ein Haus weiter, Heidestraße 50, sitzen Graft. Fabriketage, Hinterhaus, 4. Stock. Von oben ein grandioser Blick auf Brachen, Lagerhallen, Gebrauchtwagenhändler. Irgendwo hier vergibt das Arbeitsamt Tagelöhner-Jobs an Frühaufsteher. Anderthalb Steinwürfe von Deutschlands neuestem Hauptbahnhof entfernt sieht es aus wie auf einem aufgelassenen Güterbahnhof in Detroit. Ein langes, asphaltiertes Band führt direkt auf das Haus zu. „Unser Runway“, scherzen die Architekten gern.

Dieser Bürostandort ist Programm. „Wir sind immer da zu finden, wo es Umbruch gibt“, sagt Thomas Willemeit. Während das Berliner Büro von gmp unlängst aus seiner schicken Kreuzberger Fabriketage ausgezogen ist, weil ein Architekturbüro in einem Industriebau den chinesischen Besuchern nicht zu vermitteln war, geht Graft bewusst ins Undefinierte, Uneinheitliche, Zerfetzte.

Das war schon nach ihrem Studium so. Lars Krückeberg und Wolfram Putz hängten nach ihrem Braunschweiger Diplom ein Masterstudium in Los Angeles an. Dort gründeten sie 1998 Graft. Thomas Willemeit, der als einziger für einen internationalen Star-Architekten, Daniel Libeskind in Berlin, gearbeitet hatte, kam 2001 dazu. Die drei sind Inhaber der Büros in Berlin und Los Angeles. Gregor Hoheisel, der „vierte“ Graft, hatte für gmp in China gearbeitet ist seit 2003 Partner im Pekinger Graft-Büro.

Allein und ohne Protektion in dieser Dreckshölle Los Angeles, wo Dynamik und Erfolg ebenso schamlos öffentlich sichtbar sind wie Elend und Gewalt: Die jungen Architekten aus Deutschland beginnen hier mit anonymen Garagenumbauten. Als es noch nicht so gut lief, mussten sie auch schon mal Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um überhaupt ihre Green Card verlängert zu bekommen.

Sie haben sich durchgebissen und es geschafft – bis nach Hollywood. Das dürfte zu allererst dem positiven Naturell der drei geschuldet sein. Die Oberflächlichkeit vieler Amerikaner ist ihre Sache nicht, dennoch leben sie einfach das fünfte Betätigungsfeld, das Graft (neben Architektur, Städtebau, Ausstellungsdesign und Musik) auch noch hat: „Pursuit of Happiness“.

Wer erwartet hätte, auf arrogante Popstars zu treffen, bei denen ständig der Blackberry piept, sieht sich getäuscht. Herzlich, präsent, aufmerksam und ohne Allüren begegnen sie einem – immer. Alle drei sind einfach gleich nett – so dass ich zugeben muss, sie früher gelegentlich miteinander verwechselt zu haben, obwohl sie völlig unterschiedlich aussehen.


Der menschliche Faktor ist sicher der erste Grund, warum sie Erfolg haben. In dem Geschäft, das sie betreiben, müssen sie Menschen überzeugen, in ihrem Fall überdies in nahezu allen Erdteilen dieser Welt. Das gelingt nur dem, der den Bauherrn nicht nur als Vehikel zur Verwirklichung eigener künstlerischer Ambition sieht. Der Bauherr (sie sagen übrigens „Kunde“) ist für Graft immer der Partner, nie der Feind, der die schöne Architekturidee kaputtmacht. „Derjenige, der Beschränkungen auferlegt, stellt lediglich die schwierigere Rätsel-Aufgabe“, sagen sie.

„Ein paar schicke Interiors plus Brad Pitt“ – das war lange Zeit die wahrgenommene Formel Graft. Spätestens mit der Aedes-Ausstellung, die jetzt tourt und zur Zeit in Dornbirn gezeigt wird, ist das völlig anders. In der Geschichte der Galerie Aedes hat es wohl noch nie einen so dicken Ausstellungskatalog gegeben. Graft bauen überall, und überall gleichzeitig. Nicht immer sind es komplette Hochbauten, oft auch „nur“ Fassaden, Hoteleinrichtungen, Shops und Restaurants, aber die Anzahl und Größe der Projekte ist inzwischen Weltliga. Ein einziges solcher Projekte würde manches Architekturbüro auslasten. Vom Umbau eines riesigen Interhotels in Georgien bis zum Apartment-Turm in Las Vegas, von der Seevilla in Berlin bis zur Marina in China ist alles dabei.




„Die Kurvenbauer“ nennt sie die FAZ. Tatsächlich ist die Architektur hochgradig dynamisch. Die Grenzen zwischen innen und außen, zwischen Wand und Decke, zwischen Architektur und Möbel, sie verschwimmen und verschwinden. Derlei Motive sind keineswegs einzigartig in der gegenwärtigen Architekturszene, ja, man wird manches sogar modisch nennen dürfen. Doch im Unterschied zur Generation Libeskind, Hadid und Gehry, die spät zu bauen begonnen hat und jetzt dazu verdammt ist, bis zum Lebensende ihre Markenarchitektur abzuliefern, haben Graft noch viele Jahre Entwicklung vor sich. Es kann als sicher gelten, dass die Architektur von Graft in zehn Jahren ganz andere Schwerpunkte hat.

Das Fundament dazu liefert ihnen ihre Ausbildung. Etwas überraschend für den, der sie nicht kennt, ist ihre übereinstimmende Aussage über den prägendsten Lehrer ihres Studiums: Ausgerechnet der Baugeschichtler war es. Harmen Thies führte das Prinzip der Struktursuche zur Architektur-Analyse fort, das der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr um 1930 eingeführt hatte. Er teilte die gesamte Struktur des Gebäudes in einzelne Elemente auf und fügte dann das Gebäude durch Beschreibung seiner konstituierenden Elemente wieder zusammen.

Graft als Dekonstruktivisten, die die Architektur auseinander nehmen und wieder neu zusammensetzen? Als Barock-Dynamiker in der Nachfolge Borrominis? Rock over Baroque (Wolf D. Prix)? Vielleicht. Sie analysieren den strukturellen Reichtum der Architekturgeschichte und übersetzen ihn mit neuen Materialien in die Gegenwart. Die Graft-Architektur ist also dann doch etwas ganz anderes als die maschinengenerierten Blobs der Computer-Nerds. Graft wissen, wann und warum etwas schön ist, denn ihre Wurzeln sind die klassischen Maßstäbe der Architektur.

Und dies dürfte der zweite zentrale Grund für ihren Erfolg sein: Sie überzeugen den Bauherrn nicht nur mit ihrer Persönlichkeit, sondern gerade auch mit ihrer Architektur. Was Graft machen, ist interessant – auch in den Augen architektonischer Laien. Damit haben sie weltweit Erfolg – ein Erfolg, den mancher ihnen inzwischen neidet. Doch was ist eigentlich falsch daran, wenn junge Architekten aus Deutschland mit eigenen Ideen weltweit gefragt sind? Wer nun glaubt, der Erfolg sei vom Hollywood-Himmel gefallen, der irrt: Er beruht vielmehr auf Können, Integrität und – viel, viel Arbeit, meist im Rhythmus fremder Zeitzonen. Aber sie lohnt sich.

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