Crystal Talk
Text: Norman Kietzmann, Katrin SchamunFotos: Diller Scofidio + Renfro

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Wenn es Architekten gibt, die bauen und Architekten, die gerne bauen würden, bilden die New Yorker Architekten Diller Scofidio + Renfro eine dritte Kategorie. Der Architektur haben sie sich erst sehr spät genähert und ihre ersten Arbeiten stattdessen im Bereich der Kunst, des Theaters und der Performing Arts realisiert. „Unser Forschungsthema ist der Raum und seine Grenzen innerhalb unserer Kultur“, erklärt Elizabeth Diller die Taktik ihres Büros. Architektur bedeutet für sie weit mehr als nur das Aneinanderfügen funktionaler Schachteln. Sie wird zu einer Methode, Zusammenhänge zu hinterfragen und miteinander in Relation zu setzen. Manchmal vermag sie sich dafür sogar in Luft aufzulösen.

Gäbe es ein Verfahren, die Wirkung von Gebäuden zu bemessen, müsste der Zeiger bei den Arbeiten von Diller Scofidio + Renfro stets am oberen Anschlag stehen. Denn auch wenn ihr Büro seit seiner Gründung 1979 kaum mehr als eine Handvoll Projekte tatsächlich realisiert hat, ist ihr Einfluss auf die gegenwärtige Architekturszene immens. Ihr Geheimnis? Es ist ihre Auffassung von Raum, die sich der konventionellen Architekturbetrachtung entzieht und ihn stattdessen in einen anderen Aggregatzustand versetzt. Der Raum beginnt bei ihnen zu fließen.

Er wird zu einem Medium, das im Zustand permanenter Veränderung und des Werdens begriffen ist. Etwas, das die Grenzen des Statischen längst hinter sich gelassen hat. Was Diller Scofidio + Renfro in ihren zahlreichen Texten auf theoretischer Ebene geschrieben haben, konnten sie im Jahr 2002 schließlich auch in der Praxis realisieren. Ihr temporärer Pavillon für die Schweizerische Landesausstellung, der als schwimmende Metallkonstruktion über dem Neuenburger See errichtet wurde, war mehr als ein Gebäude konventioneller Art. Er war das, was Architektur vielleicht schon immer sein wollte: Eine Wolke, die ihre Form, Größe und Anmutung mit der Richtung des Windes verändert und die Grenze zwischen Innen und Außen vollends verschwimmen lässt. Erschaffen aus unzähligen kleinen Düsen, die das Wasser des Sees zu einer blickdichten Wolke vaporisierten, entstand ein sinnlicher Erfahrungsraum, in den die Besucher – umhüllt von dichten Regencapes und 100% Luftfeuchtigkeit – eintauchen konnten.

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Die Architektur haben Elizabeth Diller, Ricardo Scofidio und Charles Renfro mit dieser Arbeit weit mehr als nur von ihrer bisherigen Materialität und Statik befreit. Sie haben sie in gewisser Weise neu erfunden. Es ist das erste Gebäude, dessen Fassade man nicht berühren und dennoch spüren kann. Und es ist das erste Gebäude, das die Veränderlichkeit und Bewegung, die bereits in den architektonischen Utopien der 60er Jahre gefordert wurde, tatsächlich einzulösen vermochte. Während Wolf Prix noch immer von den Wolkenplänen aus den Frühtagen seiner Jugend erzählt, haben Diller Scofidio + Renfro sie längst auf intelligente Weise in die Realität umgesetzt. Sie haben ein Gebäude geschaffen, das sich über klassische Grund- und Aufrisse nicht mehr beschreiben lässt. Mehr noch: Selbst über die Fotografie oder den Film lässt sich der multisensuelle Eindruck nicht auf adäquate Weise wiedergeben. Er ist nur direkt vor Ort erfahrbar.

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Wie es Diller Scofidio + Refro gelungen ist, gleich eine ganze Reihe architektonischer Utopien in einem einzelnen Gebäude zu vereinen und nebenbei auch noch jene Konventionen der Form, Funktion und Statik über Bord zu werfen, die die meisten Architekten vor progressiven Entwürfen bewahren, erklärt nicht zuletzt auch der persönliche Werdegang der charismatischen New Yorker. Denn auch dieser begann in den stürmischen 70er Jahren bei weitem nicht nach Vorschrift.

Kennengelernt haben sich Elizabeth Diller und Ricardo Scofidio an der Cooper Union School. Sie, Jahrgang 1954, studierte Kunst und er war ihr 20 Jahre älterer Professor. Fortan im beruflichen wie privaten Leben ein Paar, wurde ihre gemeinsame Wohnung am Cooper Square bald zu einem stadtbekannten Treffpunkt der New Yorker Kunst- und Architekturszene. Dass sich ihre ersten praktischen Projekte, die neben ihren zahlreichen theoretischen Arbeiten entstanden, an der Grenze zwischen Kunst, Performance und Theater bewegten, verwundert dabei nicht. Und doch ist das Architektonische bereits deutlich spürbar, ebenso wie ihr spielerischer Sinn für Transformation. So entstehen in den Jahren 1993 bis 1998 unter dem Titel „Housework Series“ Arbeiten aus „falsch“ gebügelten Hemden. Das wohl bekannteste und zugleich langweiligste aller Kleidungsstücke wird von ihnen über origamiartige Faltungen in eine komplexe räumliche Figur verwandelt. Architektur im Kleinen, die auf rätselhafte Weise vertraut und fremd zugleich erscheint.

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Das Spiel mit der Betrachtung entwickeln sie auch in anderen Arbeiten weiter. Bei ihrer 1999 in der Pariser Fondation Cartier gezeigten Installation „Master/Slave“ werden die Besucher zu Voyeuren eines seltsamen Schauspiels. Inmitten einer Vitrine von zehn mal zehn Metern bewegt sich auf einem knapp 90 Meter langen Förderband eine ganze Gruppe historischer Spielzeugroboter aus den 60er und 70er Jahren. Die Roboter, die allesamt der Sammlung von Vitra-Chef Rolf Fehlbaum entspringen, stehen in einer Reihe, die sich bewegt, anhält, wieder weiterfährt. Sie stehen Schlange wie Arbeitssuchende beim Arbeitsamt. Oder sind sie doch nur Reisende, die stundenlang am Bahnschalter auf ihr Ticket warten? Der Aufbau der Installation verhindert, dass die Roboter von Nahem betrachtet werden können. Es bleibt allein der Blick auf die seitlich montierten Monitore, die die Bilder der Überwachungskameras im Inneren der Vitrine übertragen. Kein Winkel bleibt von ihnen unbeobachtet. Selbst dann nicht, wenn die Schlange der Roboter auf einer Rampe herabfährt und dort von X-Ray-Maschinen wie am Flughafen durchleuchtet wird. Das mechanische Innenleben der kleinen Mensch-Maschinen wird plötzlich sichtbar nach außen gekehrt.


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„Architekten sollten unsere kulturelle Welt enthüllen, sie untersuchen – ich nenne das Evolution. Unser Ziel ist es, Antworten zu geben“, fährt Elizabeth Diller weiter fort. Was sie dabei von anderen Theoretikern unterscheidet, ist ihr treffsicherer Sinn für etwas abseitige und dennoch umsetzbare Sujets – auch wenn diese mitunter erst aus einem langen Dornröschenschlaf geweckt werden müssen. So geschehen bei ihrem derzeit viel beachteten Projekt in ihrer Heimatstadt New York. Inmitten des Meatpacking Districts verwandelten sie eine stillgelegte Hochbahntrasse in einen schwebenden Park über der Stadt. Wie auch einst ihr „Blur Building“ zeigt sich dieser als ein seltsam hybrides Wesen, das einen technisch konstruktiven Unterbau mit einer teils verwilderten, teils neu hinzugefügten Vegetation kombiniert.

Zählt der „High Line Park“, dessen erster, zwei Kilometer langer Bauabschnitt im Juni 2009 eröffnet wurde, zu den derzeit ambitioniertesten Entwicklungsprojekten in New York, sind Elizabeth Diller, Ricardo Scofidio und Charles Renfro, dem dem Büro 2004 als weiterer Partner beitrat, derzeit mit einem weiteren Großprojekt in der Stadt beauftragt: dem Umbau und der Erweiterung des „Lincoln Center of Performing Arts“. Was sie dem weltweit größten Kulturzentrum seitdem verordnen, ist weit mehr als nur ein optisches Facelifting in seinem Inneren. Ihre Planung sieht vor, das in sich geschlossene Ensemble zu öffnen und in den Kontext der Stadt zu erweitern, seinen hermetischen Gestus zu überwinden.

Dass Diller Scofidio & Renfro nicht nur in der Lage sind, Architektur zu denken sondern ebenso in die Realität umzusetzen, haben sie mit ihren beiden ersten fertiggestellten Gebäuden bewiesen. Neben dem „Slighter Building“ (2000) im japanischen Gifu, bei dem sie 105 Wohneinheiten zu einem leicht versetzten, rhythmischen Fassadenband verdichteten, ist es vor allem das 2007 eröffnete Institute of Contemporary Art (ICA) in Boston, bei dem sie ihre räumlichen Qualitäten ausspielen konnten. Das Gebäude – im übrigen der erste Museumsneubau in der Ostküstenstadt seit 100 Jahren – zeigt sich als ein markanter, schwebender Baukörper, der weit über den Fan Pier im historischen Hafen hinausragt. Der öffentliche Raum, der an dieser Stelle zu den meist frequentierten Plätzen der Stadt gehört, wird über eine große Freitreppe direkt in das Kulturzentrum hineingeholt. Auch hierin zeigt sich ein wesentlicher Aspekt ihrer Arbeit. Denn auch, wenn Diller Scofidio + Renfro stets als Intellektuelle der internationalen Architekturszene wahrgenommen werden: ihre Projekte kommen niemals elitär daher. Mehr noch: sie sind so offen und integrativ, dass sie selbst ihren konservativsten Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen. Vielleicht liegt darin sogar ihr größter Verdienst: Sie haben die Avantgarde aus dem Salon befreit.