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Text: Benedikt HotzeFotos: Grüntuch Ernst

Interview

Interview Grüntuch Ernst

GRÜNTUCH UND ERNST ÜBER HEROISCHE PHASEN, AUSNAHMEN VON DER REGEL UND ARBEITEN IM SCHAUFENSTER...

Als Sie 1991 nach Berlin kamen, hatten Sie das Gefühl, bereits zu spät dran zu sein. Hat sich das in der Rückschau bestätigt?

Almut Ernst
Als es so richtig turbulent in Berlin zuging, konnten wir das zunächst nur von London aus beobachten. Als wir dann nach Berlin kamen, hatten wir das Gefühl, zu diesem wichtigen Zeitpunkt noch zu wenig Erfahrung gesammelt zu haben. Als wir später durch Wettbewerbe unser Portfolio ganz gut aufgearbeitet hatten, ging es hier schon fast wieder bergab. Dennoch: Dieses antizyklische Wachsen war für uns auch ganz gut, weil es uns Stabilität in der Bürostruktur bescherte.

Muss Erfolg ganz unten beginnen? Steve Jobs lötete seine ersten Rechner in der Garage zusammen, und Deep Purple klampften auf ihren ersten Tourneen in Schulturnhallen und schliefen in feuchten Kellerlöchern. Wenig später waren sie Weltstars. Hatten Sie auch so eine heroische Phase?

Armand Grüntuch
Wir sind weder durch unsere Arbeit Millionäre geworden, noch habe ich das Gefühl, dass wir Weltstars sind. Aber wir arbeiten auch nicht in Kellern.
Architekt sein ist ein Beruf, der schwer planbar ist. Doch wenn man eine Sache mit Leidenschaft, Herz und Ausdauer betreibt und sich darüber immer mehr Kompetenz erarbeitet, kommt man an einen Punkt, der auch eine wirtschaftliche Basis liefert.

Almut Ernst
1991 und in den folgenden Jahren hatten wir durch unsere Jobs an der HdK Rückendeckung: Sie gaben uns die Freiheit, den Dingen mit Muße nachzugehen. Also haben wir kleinere Umbauten, Gutachten und viele Wettbewerbe gemacht. Als wir 1993 einen solchen gewonnen haben, die Schule für geistig Behinderte, war das der Durchbruch.
Aufgrund der Berliner Haushaltslage dauerte es allerdings neun Jahre bis das Gebäude fertig war. Ich habe manchmal gedacht, was machen die eigentlich, wenn so ein junges Büro gar nicht so lange durchhält? Denn das Honorar vergrößert sich ja nicht mit der Zeitspanne, sondern im Gegenteil... Und so waren wir sehr froh, dass wir die neun Jahre durchgehalten haben, die wir gebraucht haben, bis der Hackesche Markt als sichtbare gebaute Referenz da war.


Wie organisieren Sie Ihr Büro? Haben Sie Bauzeichner, Azubis, Sekretärinnen?

Armand Grüntuch
Wir haben als eine relativ kleine Einheit angefangen und sind sukzessive gewachsen. Aus dieser Tradition heraus haben wir eine Art zu arbeiten entwickelt, in der jeder alles machen muss. Diese "Lean Production" führt dazu, dass jeder Mitarbeiter gezwungen ist, ganzheitlich zu denken.

Almut Ernst
Ich habe tatsächlich mal überlegt, einen Bauzeichner auszubilden. Das ist daran gescheitert, dass das nur Büros dürfen, die tatsächlich Werkpläne mit der Hand zeichnen. Ein reines Computerbüro darf keinen Bauzeichner ausbilden. Wer die dann eigentlich später anstellen soll, fragt keiner.

Stichwort reines Computerbüro: In vielen Büros wird nicht nur am Computer gezeichnet, sondern die Software sogar zum Generieren von Formen herangezogen. Wie setzen Sie das Werkzeug ein?

Armand Grüntuch
"Reines Computerbüro" ist ein bisschen irreführend. Wir zeichnen viel mit der Hand, aber nicht an der Reißschiene, sondern Freihand. Und wir arbeiten viel an Modellen. Wir machen bei fast jedem Projekt ausgiebige räumliche Studien mit echten, dreidimensionalen Modellen. Wir haben dafür hinten einen extra Raum mit Werkstattcharakter und viel Durcheinander. Gerade, wenn man mit dem Computer arbeitet, muss man die haptische Dimension von Raumerfahrung permanent an Hand von realen Modellen überprüfen.

Almut Ernst
Die Grundidee des Zeichnens am Computer ist, dass man verschiedene Ebenen anlegen kann, die man unterschiedlich übereinander blenden oder eben auch unsichtbar schalten kann. Das wiederum schult eine gewisse Art zu denken und ist einfach anders angelegt als eine Tuschezeichnung per Hand, die wir ja in unserer frühesten Büroerfahrung auch noch erlebt haben.

Armand Grüntuch
Wir versuchen, mit möglichst einfacher Software zurechtzukommen, verwenden also weniger die großen Softwarepakete, die alle möglichen Komponenten zu bieten haben, sondern eher Spezialsoftware zum Zeichnen, zum Rendern und zum Modelling. Die Daten werden dann über Schnittstellen miteinander gekoppelt.


Almut Ernst
Wir sind mit der Softwarelösung MiniCAD bzw. Vector Works mitgewachsen. Das ist ein Tool, das im Gegensatz zu den aus dem Maschinenbau stammenden Programmen sehr einfache geometrische Definitionen hat.
Schon im Studium gab es eigentlich zwei Lager: auf der einen Seite ingenieurwissenschaftliche Programme, die viel mit Mathematik- und Wirtschaftssoftware zu tun hatten, und auf der anderen Seite die Apple-Gemeinde. Das waren die Leute, bei denen Bilder und Grafiken im Vordergrund standen. Die Mac-Welt ist intuitiver, das hatte uns schon immer angezogen.

"Alles ist möglich. Dafür haben wir ja gekämpft", sagt Frei Otto in einem Interview, das Sie selbst mit ihm geführt haben. Man kann heute alle erdenklichen Formen bauen. Muss man sie bauen, nur weil sie möglich sind?

Armand Grüntuch
Nein, gewiss nicht. Aber es ist wichtig, dass diese Entwicklung eingeleitet wurde und man nun die Möglichkeiten hat, auf unterschiedliche Voraussetzungen auch unterschiedlich zu reagieren. Es wäre sicher Blödsinn, innerhalb einer Baulücke auf komplexe formalästhetische Geometrien abzuheben. Aber, nehmen Sie das Münchener Olympiastadion, eines der herausragendsten Gebäude in Deutschland nach dem Krieg: Wenn Sie an die Schwierigkeiten denken, diese komplexen Geometrien und Kräfteverhältnisse zu Fuß zu beherrschen, dann sind die heutigen Mittel natürlich eine riesige Erleichterung. Man weiß, man kann diese Form berechnen und ist nicht auf experimentelle Modellserien mit Seifenblasen angewiesen.

Almut Ernst
Die Frage "Muss man den Blob bauen?" kann man ja ebenso gut umdrehen und sagen: "Muss man heute eigentlich noch so bauen wie früher?" Ist der rechte Winkel noch der einzige Ausgangspunkt? Gestalterische Harmonien in der Natur, eine organische Formsprache können genauso gut Leitbild sein – das ist ja bei Frei Otto immer wieder untersucht worden, nicht nur konstruktiv, sondern auch formal.



Sie schreiben: "Ausnahmen müssen zum Maßstab für das System Stadt werden." Die Ausnahme als Regel – das Ergebnis wäre ein Architekturzirkus, aber sicher keine Stadt.

Armand Grüntuch
Es stellt sich die Frage, in welchem Rahmen und in welcher Häufigkeit die Ausnahmen wiederkehren. Hier am Hackeschen Markt gibt es eine Gestaltungssatzung. Doch die Beispiele, die sich daran ganz eng anlehnen, sind mit Abstand die schlechtesten Häuser – nicht nur in unseren Augen, sondern selbst in den Augen derer, die diese Regeln gemacht haben.
Regeln können also nur der kleinste gemeinsame Nenner sein. Auch wenn man eine gewisse Einheitlichkeit erreichen will, braucht man immer Architekten, die mit Phantasie aus diesen Regeln etwas herstellen, das weit mehr als nur kleinster gemeinsamer Nenner ist.
Darüber hinaus gibt es natürlich Situationen, die eine besondere Antwort verlangen. Ein Theater oder Rathaus sieht mit Sicherheit nicht so aus wie ein normales Wohnhaus. Es bedarf solcher Ausnahmen, um ein menschengerechtes Bild von der Stadt zu erzeugen.

Almut Ernst
Jedes Regelwerk, das die Qualität einer Stadt sichern soll, ist eine wichtige Gesprächsgrundlage, es kann aber natürlich keine Gültigkeit über Jahrzehnte hinweg beanspruchen. Offenheit für Entwicklung in der Stadt bedeutet vielmehr, dass sich diese Regeln in einem ständigen Prozess der Veränderung befinden müssen, um die sich wandelnden Arbeits- und Lebenswelten der Nutzer abzubilden.

Peter Richter hat über Ihr Gebäude hier am Hackeschen Markt gesagt, dass man von dem Besprechungsraum aus die Stadt zwar sehen kann, sie aber nicht hören muss: "Gute Fenster eben. Eigentlich nichts als Fenster." Am Hackeschen Markt oder auch in Hamburg-Neumühlen: Wer hier arbeitet, sitzt im Schaufenster. Gibt es improvisierte Gegenmaßnahmen der Nutzer als Sichtschutz?

Armand Grüntuch
Das sind weniger improvisierte, sondern vorgesehene Gegenmaßnahmen. Die Fassaden, die wir entwerfen, sind sehr vielschichtig. Hier am Hackeschen Markt ist es eine Doppelfassade mit einer äußeren Schicht mit dazwischen liegendem Sonnenschutz und einer inneren Schicht aus opaken Feldern. Meistens sind die Fassaden öffenbar, und sie sind mit Sonnenschutz oder zusätzlichen Vorrichtungen individuell justierbar. Eine Fassade ist auch Teil des Gebäudes; wir versuchen, Zwischenräume, Schalträume, Atrien und Eingangssituationen vorzusehen – Räume, die es den Häusern erlauben, zu wachsen und zu schrumpfen.

Almut Ernst
Und wir versuchen unsere Fassaden so auszuarbeiten, dass sie den Nutzern das maximale Angebot an Tageslicht und an visuellen Verknüpfungen bieten. Neben der Öffentlichkeit bieten wir also auch ein Instrumentarium der Privatheit an, neben der Exponiertheit auch den Schutz, das Umhüllende. So hat der Nutzer die Möglichkeit der Anpassung an seine Bedürfnisse. Genauso, wie wir mit einer Selbstverständlichkeit unsere Kleidung verändern, tun wir das eben auch mit dieser "dritten Haut".



Wie sieht ökologisches Bauen für Grüntuch Ernst aus?

Armand Grüntuch
Ökologisches Bauen sieht ein Gebäude als Organismus an, als eine komplexe Einheit aus Konstruktion, Technik und Bekleidung.
Es ist für uns selbstverständlich, die Konstruktion als Speichermasse zu nutzen. Wenn es irgendwie geht, aktivieren wir überdies die Bauteile, ziehen also die Betondecken auch als Heiz- oder Kühldecke heran. Außerdem bringen wir eine Nachtkühlung ein, um mit relativ einfachen Mitteln eine gute Temperierung des Gebäudes herzustellen. Wintergärten lassen in der kalten Jahreszeit vorgewärmte Luft in den Innenraum. Diese Aspekte sind mittlerweile eine Selbstverständlichkeit – zumindest wird es für Architekten zur Selbstverständlichkeit werden, in diesen Dimensionen zu denken.

Almut Ernst
Die Nachhaltigkeitsdiskussion muss aber nicht nur über die Betriebsenergie und ihre technische Perfektion und Effizienz geführt werden, sondern auch städtebaulich. Siedlungen und Infrastruktur müssen in der Fläche komprimiert werden, damit das Verkehrsaufkommen unserer täglichen Wege reduziert wird. Auch das hat etwas mit Architektur, mit Stadtplanung zu tun.

Welche Stichworte stehen für Ihre Arbeit im Besonderen?

Armand Grüntuch
Von uns wird gesagt, dass wir oft mit unseren Lösungen überraschen. Wir investieren am Anfang eines Projekts einen großen Teil unserer Energie in das Überwinden von vermeintlich vorgezeichneten Pfaden und erforschen alternative Möglichkeiten für die Lösung einer Aufgabe.


Eine Frage noch: Die Generation der ganz jungen Architekten wird ja inzwischen durch die Umstände fast systematisch vom Einstieg in den Beruf fern gehalten. Was können Sie diesen jungen Kollegen raten?

Armand Grüntuch
Wenn man sich einmal für Architektur entschieden hat, ist das eine Herzensangelegenheit oder eine Frage der Leidenschaft, und dann sollte man sich nicht beirren lassen. Man sollte einfach dabei bleiben. Architektur bedeutet auch immer, sich auch in schwierigen Zeiten durchzubeißen.

Almut Ernst
Wir bekommen regelmäßig Post von ehemaligen Praktikanten, die sich gezwungen sahen, mehrere Jahre im Ausland Erfahrungen zu sammeln. Und obwohl das vielleicht nicht immer der optimale, selbst gewählte Weg ist, werden die Rückkehrer dennoch irgendwann die deutsche Architekturszene bereichern.

Danke für das Gespräch. Bleibt nur noch, Ihnen viel Erfolg für Ihren Beitrag für den deutschen Pavillon in Venedig zu wünschen. Wir sind gespannt darauf!

Armand Grüntuch
Wir auch...

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