Interview
Vom Rotterdamer Hauptbahnhof zur Van Nelle Fabrik nordwestlich des Zentrums sind es zehn Minuten mit dem Bus. Die 1931 nach Plänen von Jan Brinkman und Leen van der Vlugt gebaute Großhandelsfabrik gilt als die Ikone der niederländischen Moderne. Früher hat man hier Tee von großen in kleine Tüten verpackt, Kaffee geröstet und Tabak aufbereitet. Nach der Sanierung vor drei Jahren sind Grafiker, Filmproduzenten, Musiker, Architekten und Rechtsanwälte eingezogen. In einer Halle gegenüber dem eindrucksvollen Fabrikbau, wo früher der technische Dienst die Maschinen gewartet hat, stehen heute drei lange Tische. Einer mit Rechnern und Telefonen, einer mit Styrodurblöcken und Schneidematten und einer mit einem Tablett voll Marmelade, Kakao und Hagelslag, den berühmten holländischen Zuckerstreuseln. Zum Gespräch haben wir uns mit André Kempe und Oliver Thill in ein kleines, durch eine Glaswand von der Halle getrenntes Abteil gesetzt – wie geschaffen für die Büroleitung.
Es sieht nicht so aus, als säßen wir hier im Chefzimmer. Würde sich doch aber eigentlich gut eignen.
André Kempe:
Die Mitarbeiter und wir sitzen alle an einem Tisch. So bekommt jeder alles mit. Das
ständige Reden kann zwar stören, aber die Mitarbeiter sind auch immer gut informiert,
zum Beispiel wenn jemand bei einem anderen Projekt einspringen muss. Das
heißt ja nicht, dass es keine Hierarchie gibt. Nur muss sie sich nicht in getrennten
Räumen manifestierten.
Oliver Thill:
Es ist eine sehr deutsche Idee, dass der Chef in seinem eigenen Büro sitzt.
Aber Ihr stammt doch beide aus Deutschland. Manche bezeichnen Euch als „deutschstämmiges Büro“, manche als „Büro der Architekten, die aus der DDR kommen“. Für andere seid Ihr „die in Holland erfolgreichen Sachsen“. Als was fühlt Ihr Euch?
André Kempe:
Wir sind ein niederländisches Büro, das integraler Bestandteil der niederländischen
Architekturszene ist. Das Büro hat zwei deutsche Direktoren, wir haben deutsche Pässe.
Arbeitet Ihr auch wie ein deutsches Büro?
Lautes anhaltendes Lachen.
Warum erheitert Euch diese Frage so?
André Kempe:
Wir haben eigentlich nie in deutschen Büros gearbeitet. Insofern wissen wir nicht, wie
deutsche Büros funktionieren. Aber wir sind sehr deutsch in unseren Wurzeln, vielleicht
sogar viel deutscher als die Deutschen. Das ist mit uns wie mit den türkischen
Frauen, die ihre Kopftücher in Istanbul nicht tragen, aber hier natürlich doch. Wir sind
hier deutscher geworden, als wir in der Heimat je gewesen wären.
Inwiefern beeinflusst das Eure Architektur?
André Kempe:
Als Architekt musst du, um authentisch zu sein, ähnlich wie ein Künstler, tief zu
deinem Innersten vordringen. Beim Europan-Wettbewerb wurde uns auf einmal klar,
dass wir in unserer Arbeit sehr strukturell und klassizistisch vorgehen. Wir haben in
uns den Mies van der Rohe entdeckt.
Warum seid Ihr nach dem Studium in die Niederlande gegangen?
Oliver Thill:
Wer damals im Osten studiert hatte, ging normalerweise zum Arbeiten nach Westdeutschland.
Ich wollte nicht in dieses Ost-West-Schema gedrückt werden. Die
Niederlande oder auch die Schweiz erschienen neutraler.
André Kempe:
Die Niederlande sind ein Land, das durch andere Kulturen bereichert wird. Als deutscher
Architekt ist man hier willkommen. Die Holländer wissen ganz genau, was wir
Deutschen hier beitragen können: Mercedesqualität, Pünktlichkeit, Ordentlichkeit.
Und sie haben große Sympathien für Ostdeutschland.
Oliver Thill:
Die Niederlande haben genauso viele Einwohner wie die Ex-DDR. Hier herrscht die
informelle Kultur des kleinen Landes. In der DDR war es der Kommunismus, der die
Hierarchien glatt gebügelt hat, in den Niederlanden ist es der Calvinismus.
Seht Ihr Vorteile darin, in Ostdeutschland aufgewachsen zu sein?
André Kempe:
Oliver kommt aus dem Erzgebirge, bei ihm liegt das Handwerk in der Familie. Mein
Opa war Schlosser. Das Gefühl für handwerkliche Tätigkeit ist ja heute unter jungen
Leuten kaum noch vorhanden. Das Handwerk in Europa verschwindet, die Menschen
haben keine Beziehung mehr dazu, wie Dinge gemacht werden. Wir haben das verinnerlicht.
Die Sachsen sind sparsam und sehr technisch orientiert. Eine handwerkliche
Familientradition ist viel wichtiger als die Ausbildung.
Ihr habt in den 90er Jahren an der TU Dresden studiert. Was habt Ihr da gelernt?
Oliver Thill:
Wir hatten das Glück, an einer Uni zu studieren, die weder Profil noch Struktur hatte.
Es war die Zeit des Umbruchs, die alten Professoren gingen, neue kamen. Wir waren
der erste Jahrgang nach der Wende. Wir haben die Freiräume genutzt, einfach eigene
Projekte gemacht, sie im Nachhinein beim Professor eingereicht und dafür Punkte
bekommen. Als André in Paris war, habe ich in der Präsentation einfach seinen Entwurf
vorgestellt.
Kees Christiaanse hat Euch mal als „Musterossi, die gern gefördert wurden“ bezeichnet. Ihr seid mit Stipendien in Wien, Paris und Tokio gewesen. Wie passt das damit zusammen?
Oliver Thill:
Wir wollten machen, was uns Spaß macht, und wir wollten ins Ausland. Deshalb
haben wir uns für Stipendien beworben. Es gab damals viele Möglichkeiten. Aber im
Osten wusste kaum jemand davon. Wenn man zweimal ein Stipendium bekommen
hatte, war es einfach, weitere zu bekommen.
Was ist gute Architektur?
André Kempe:
In einer globalen Gesellschaft sollten sich die Architekten ihrer Wurzeln bewusst
werden und diese weiter tragen. Alle guten Architekturen entstehen so, deshalb sind
die Japaner ja auch so gut.
Oliver Thill:
Früher haben deutsche Architekten eine internationale Rolle gespielt. Warum gibt es
heute keine Nina Hagen, kein Kraftwerk der deutschen Architektur? Es gibt sie in der
Bildenden Kunst, in der Musik, aber nicht in der Architektur. Da hilft auch die ganze
Nachhaltigkeitsgeschichte nicht.
Dies ist doch aber das Thema der Zukunft.
Oliver Thill:
Man muss auf dem Stand der Technik operieren, ein gutes Gleichgewicht finden.
Deshalb muss daraus aber nicht sofort eine moralische Position abgeleitet werden,
die auf der Meinung gründet, man könne mit besserer Architektur die Welt retten.
André Kempe:
Die ganze Nachhaltigkeitsdiskussion ist nur ein Versuch, eine verschwenderische
Lebensweise zu legitimieren. Wir sind mit relativ wenig groß geworden. Weniger konsumieren,
weniger Luxus, das ist ökologisch. Danach haben wir schon immer gelebt.
Mir ist aufgefallen, dass das Wort „Krise“ häufig in Euren Erläuterungstexten auftaucht. „Der kollektive Wohnungsbau ist in der Krise“, schreibt Ihr, oder „Konzerthäuser sind seit der Moderne in der Krise“. Glaubt Ihr wirklich, dass alles immer schlechter wird?
Oliver Thill:
Viele unserer Auftraggeber wollen zwar neue Dinge ausprobieren, haben aber Angst
davor. Es ist besser, ihre Ängste zu thematisieren als den Enthusiasmus. Wenn wir die
Probleme ernst nehmen, sind sie viel eher bereit, eine Lösung zu akzeptieren.
André Kempe:
Mit der Problematisierung verkleiden wir unsere architektonischen Strategien. Als
Architekt kann man dem Auftraggeber niemals eine reine architektonische Argumentation
zumuten. Wir sind ja schließlich Dienstleister.
Wie geht Ihr selbst mit der Krise um? Hat sie einen Einfluss auf Euer Büro?
André Kempe:
Im Vergleich zu 2008 gibt es für alle Büros im Schnitt nur noch halb so viel Aufträge.
Um die verbleibenden 50 Prozent wird hart konkurriert, es fühlt sich also an wie 35
Prozent.
Oliver Thill:
Bis 2008 bestanden unsere Aufträge zu einer Hälfte aus Wohnungsbau und zur anderen
aus öffentlichen Bauten. Seit der Krise sind die Wohnungsbauaufträge beinahe
vollständig weg gebrochen. Wir organisieren das Büro gerade um und versuchen, die
Mitarbeiterzahl konstant zu halten.
Wie akquiriert Ihr Aufträge?
André Kempe:
Wettbewerbe sind sehr wichtig. Obwohl es in den Niederlanden nur Verhandlungsverfahren
gibt. Da geht es um Selbstdarstellung und einen guten Vortrag. Unsere
Konkurrenten legen dann oft ein dickes Buch mit ihren vielen realisierten Projekten
auf den Tisch. Wir versuchen es mit Argumenten.
Vor zwei Jahren habt Ihr eine umfangreiche Studie über das Wettbewerbswesen in den Niederlanden erarbeitet. Warum?
André Kempe:
Wir kamen einfach nicht in den Markt. Die Auftragsvergabe regeln in den Niederlanden
private Projektmanager gemeinsam mit den Politikern. Es gibt hier keine Architektenkammern
wie in Deutschland, die Vergabeverfahren überwachen. Nur wenige Büros können an Verfahren
teilnehmen, weil sie den geforderten Umsatz nachweisen können. In dieser Art Monopol sehen
wir ein großes kulturelles Problem.