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02.08.2016

Soziologie des Sitzens

Installation in London


Verweilen erwünscht! Bänke an Bahnhöfen, Parks oder Plätzen sind meist so geplant, dass Passanten sie möglichst kurz und nicht gerade auf vielfältige Art und Weise nutzen – sitzen ist erlaubt, darauf stehen, liegen oder schlafen soll aber bitte niemand. In London ist derzeit eine Installation zu sehen, die ein Anti-Statement zum üblichen Stadtmöbel ist und gleichzeitig vielfältige Bezüge zur aufgeladenen Sozialgeschichte ihres Standortes eröffnet.

Mit dem „Pentagon Petal“ laden Architektin Marianne Mueller (Casper Mueller Kneer Architects, London/Berlin) und Künstlerin Fran Cottell zur Interaktion mit einer 120 Meter langen Bank auf dem Rootstein Hopkins Parade Ground ein. Der 3.500 Quadratmeter große, zentrale gelegene Platz in direkter Nachbarschaft zur Tate Britain westlich der Themse gehört zum Campus des Chelsea College of Art, das gleichzeitig Auftraggeber der Intervention ist. Vor acht Jahren war er durch Anish Kapoor von einer Parkplatzfläche zwischen den alten Gebäuden des Royal Army Medical College zu einem historisierend anmutenden, gepflasterten Platz mit einem quadratischen Rasenstück in der Mitte umgestaltet worden.

Seine Geschichte reicht jedoch weit zurück und repräsentiert für die beiden Künstlerinnen einen „Querschnitt durch extreme soziale Modelle“: Früher ein Ährenfeld, das Getreide für Backwaren im House of Parliaments lieferte, wurde das Grundstück in Millbank Ende des 18. Jahrhunderts von dem Philosoph Jeremy Bentham im Auftrag der Krone erworben, um hier nach der von ihm entwickelten einflussreichen Bauweise des Panoptikums das Nationalgefängnis zu errichten. Die Pläne scheiterten, realisiert wurde das Millbank Prison schließlich 1821 als konzentrische pentagonale Struktur, in der man mit Isolationshaft experimentierte und die später als Zwischenstation für Insassen vor der Abschiebung nach Australien diente. Nach nur siebzigjährigem Gebrauch wurde der gigantische Bau, dessen Spuren noch heute im Stadtgrundriss ablesbar sind, abgerissen. Statt dessen errichtete man Sozialwohnungen, die Tate Britain und das Medical College – heutiger Sitz der Kunsthochschule – samt dem davor liegenden Exerzierplatz.

Hier verbindet nun noch bis 14. August eine symmetrische Figur aus sechs fünfeckigen Blütenblättern die Rasen- und Pflasterfläche des Platzes. Auf den ersten Blick eine harmlose und besonders schöne Bank, ist das Pentagon Petal tatsächlich ein 1:8-Modell der Grundrissstruktur des Millbank Prison abzüglich seiner kontrollierenden Elemente wie beispielsweise der Wachtürme. Die Bankbreite entspricht im Maßstab 1:8 dem Korridor mit daran angegliederten Isolationszellen, im Maßstab 1:1 der Breite einer typischen Gefängnispritsche. Die Arbeit kehrt die Intention der panoptischen Struktur – Einzelhaft, Disziplin und Überwachung – ins Gegenteil: sie lädt zur informellen Zusammenkunft ein.

„Die Bank ist ein Angebot, sie ist dafür da, geteilt zu werden. Ein Ort der Ruhe und der temporären Gemeinschaft mit Menschen, die sich oft nicht kennen oder vielleicht nie wieder begegnen,“ kommentiert die Architektin. Rund 200 bis 300 Menschen können hier theoretisch Platz nehmen. „Sitzen ist eine erste Form der Aneignung und etymologisch mit Besetzung verknüpft. Wie wir zueinander sitzen, mit welchem Abstand oder in welcher Höhe und Anordnung in Bezug auf andere, ist signifikant,“ fügt sie mit Referenz an Herman Hertzbergers Soziologie des Sitzens hinzu. (lr)

Fotos: Terry Watts


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