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01.01.1998

Ludwig Mies van der Rohe: Das Haus Tugendhat

Bücher im BauNetz


Ein Haus - ein Buch
Das Haus Tugendhat im tschechischen Brünn (Brno) gehört zu den wichtigsten Bauten der europäischen Moderne und gilt als einer der Höhepunkte im Werk Ludwig Mies van der Rohes, der es von 1928-1930 plante und baute. In Grete und Fritz Tugendhat fand Mies nicht nur vermögende sondern auch ungewöhnlich aufgeschlossene Bauherren, die für die Realisierung des Projekts einen seltenen Glücksfall darstellten.
„Vom ersten Augenblick unserer Begegnung an war beschlossen, daß er unser Haus bauen sollte, so sehr waren wir von seiner Persönlichkeit beeindruckt. Er hatte eine ruhige, selbstbewußte Art, wie er über sein Bauen sprach. Wir hatten das Gefühl, einem wirklichen Künstler gegenüberzustehen“ (G. Tugendhat, 1969).
Das vorliegende Buch mit Beiträgen unterschiedlicher Autoren beleuchtet vielfältige Aspekte der Entstehungsgeschichte und Rekonstruktion des Gebäudes sowie des Gesamtwerks des Architekten. Es zeigt bisher unveröffentlichtes Bilder aus den Jahren 1930 bis 1938, die das neu errichtete Bauwerk und seine Bewohner zeigen. Dabei handelt es sich um Originalfotos aus dem Familienbesitz von Daniela Hammer-Tugendhat, der Mitherausgeberin des Buches und jüngsten Tochter der Bauherren. Den Anhang bilden ein Katalog der ursprünglichen Möblierung des Hauses und einige farbige Abbildungen.


Gesamtkunstwerk
Die herausragende Stellung des Hauses innerhalb der europäischen Moderne liegt nicht nur in der konsequent gestalteten Freiheit des Raumes begründet, sondern auch in der mit Sorgfalt bedachten Ausstattung. Die Auswahl der verwendeten exklusiven Materialien und die Entwürfe der Möbel lagen in den Händen von Mies van der Rohe und Lilly Reich. Das Haus wurde als Stahlskelettkonstruktion ausgeführt und besaß neben der Heizung eine in der damaligen Zeit sehr ungewöhnliche Klimaanlage für den Wohnraum. In die berühmte Gartenfassade sind zwei in schwere Bronzerahmen gefaßte Spiegelglasscheiben integriert, die sich nach dem Prinzip eines Autofensters in den Boden versenken ließen, so daß der Wohnraum teilweise wie eine Loggia benutzbar war. Auf dem weißen Linoleumfußboden lagen weiße Woll- und Perserteppiche aus; die Vorhänge waren aus schwerer Rohseide gefertigt; schwarzer Samt fungierte, an Deckenschienen hängend, als textiler Raumteiler. Die gebogene Wand im Wohnraum wurde aus Makassar-Ebenholz gefertigt; für die Wand aus Onyx, einem seltenen Marmor aus dem Atlasgebirge - „in der Farbe junger Mädchenhaare, honiggelb mit weißen Strähnen“ (Mies van der Rohe) - mußten allein annähernd 60.000 Mark veranschlagt werden, was damals etwa dem Gegenwert eines gehobenen Einfamilienhauses entsprach. Verschiedene Möbelentwürfe, wie z.B. der Tugendhat-Sessel und der Brno-Sessel, wurden anschließend in Serie produziert und sind inzwischen Klassiker der Designgeschichte.


Barcelona - Brünn
Der immer wiederkehrende, auch in diesem Buch gezogene Vergleich des Hauses Tugendhat mit dem Barcelona-Pavillon liegt auf der Hand, da beide Gebäude nicht nur zeitgleich geplant und gebaut wurden, sondern auch Ähnlichkeiten in der Konzeption der Raumfolge, dem Bezug zwischen Innen und Außen und der Konstruktion aufweisen. Wesentliche, den Raum bestimmende Materialien finden sich in beiden Gebäuden wieder. Während der 1929 fertiggestellte Barcelona-Pavillon allerdings eine von praktischen Beschränkungen nahezu freie Raumschöpfung darstellte, war das Haus Tugendhat kein abstraktes Repräsentationsgebäude, sondern ein wirkliches Wohnhaus, von dem ein gewisses Maß an Abgeschlossenheit und damit eine klare Trennung zwischen Innen und Außen erwartet wurde. Bei der Planung des Hauses Tugendhat mußte nicht nur ein konkretes Raumprogramm mit einer Gesamtnutzfläche von annähernd 1.250 Quadratmetern untergebracht, sondern auch die besondere topographische Situation am Hang und spezielle Wünsche der Bauherren berücksichtigt werden. Dementsprechend kann das Haus in Brünn als die „bewohnbare Variante“ des Barcelona-Pavillons gesehen werden. Es steht außerdem in der Folge der Entwürfe für ein Landhaus in Eisenbeton (1923) und ein Landhaus in Backstein (1924) von Mies van der Rohe, die aber - ähnlich wie der Barcelona-Pavillon - als Idealentwürfe materialgerechter Prototypen entstanden.


„Kann man im Haus Tugendhat wohnen?“
Mit dieser bekannten Frage des Architekturkritikers Justus Bier entbrannte 1931 eine Diskussion um die Bewohnbarkeit des Hauses, kurz nach dessen Fertigstellung und Veröffentlichung in der Werkbundzeitschrift „Die Form“. In der gleichen Zeitschrift veröffentlichte Beiträge beschäftigten sich daraufhin mit den Wurzeln und Zielen moderner Architektur im allgemeinen. Zu der aufgeworfenen Frage „bewohnbares Haus oder Kunstwerk?“ nahmen damals sowohl Grete und Fritz Tugendhat als Bauherren als auch verschiedene Kritiker Stellung, unter ihnen auch der Architekt Ludwig Hilberseimer. Gerade diese Beiträge sind in dem Buch aber nicht abgedruckt, was angesichts der fast zeitlosen, auch heute noch aktuell anmutenden Diskussion sehr schade ist. Denn, von wenigen veröffentlichten Ausnahmen abgesehen, wurden im Umgang mit einem offenen Raumgefüge im Zusammenhang mit dem Bau von Einfamilienhäusern auch fast 70 Jahre später kaum Fortschritte gemacht. Die Ausformulierung eines solchen Raumgedankens bleibt bis heute - wenn überhaupt - eher den Architekten kleinerer, öffentlicher und repräsentativer Gebäude, Nachfolgern des Barcelona-Pavillons sozusagen, vorbehalten.


Eine Empfehlung wert
Das Buch ist sehr zu empfehlen, weil es Begeisterung für einen echten Klassiker zu wecken versteht und neben vielen interessanten architektonischen Aspekten die menschliche Seite eines Hauses dokumentiert - ein in Werkmonographien selten unternommenes Vorhaben. Die Beiträge und Abbildungen bieten einen umfassenden Einblick in die Geschichte und den Zustand des Hauses und lassen, mit den Worten Ludwig Hilberseimers gesprochen, nur einen einzigen Wunsch offen: „Von diesem Haus können einem Photographien gar kein Eindruck vermitteln. Man muß sich in diesem Raum bewegen, sein Rhythmus ist wie Musik“. (Tobias Wenzel)


Daniela Hammer-Tugendhat, Wolf Tegethoff (Herausgeber)
Gebunden, 187 Seiten, 135 Abbildungen, davon 22 in Farbe,
Springer-Verlag, Wien New York 1998
ISBN: 3-211-83096-0


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