Exkursion Lehrstuhl Prof. Hild, TU München

16.06.2017

Weg nach Warschau

5 Tage, 28 Studierende, 10 Bücher

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Teilnehmer und Teilnehmerinnen: v.l.n.r.: Adam Gilniak, Sarah Gemoll, Laura Pastior, Bettina Moll, Kevin Kraus, Jon Kasa, Timothy Moser, Lluis Dura, Andreas Wolf Schulze, Maximilian Waske, Greta Weber, Andreas Müsseler, Stefan Gruhne, Quirin Gosslau, Elke Nagel, Max Panhans, Kilian Schellenberger, Andreas Hild, Matthias Peterheim, Florian Matthias, Karlotta Illing, Sina Hauswurz, Kristina Stefanova, Georg Meck, Anna List, Jason Textor, Marco Bross, Nelly Prechtl, Marie Gerhard, Anna Partenheimer, Christof Bedall, Carolin Blaim, Sandra Panzer

Von Elke Nagel

Der Städtename Warschau ist verbunden mit Widerstand, Aufbäumen gegen Unterdrückung und dem militärischen Beistandspakt des Ostblocks. Die Strahlkraft der Politik überdeckt alle anderen Bedeutungsebenen. Dazu gehört auch das phönixgleiche Wiedererstehen aus der Asche, das in Warschau weniger Metapher und mehr Realität war als andernorts. Die Würdigung des Wiederaufbaus der Altstadt als UNESCO Weltkulturerbe zeichnet Ort und Leistung gleichermaßen aus.

Nicht weniger bedeutsam ist der städtebauliche und architektonische Neuanfang im restlichen Stadtgebiet, der, in frappierender Gleichzeitigkeit mit dem rekonstruierenden Wiederaufbau des Stadtkerns, die Charakteristika der sozialistischen Nachkriegsarchitektur feiert. Der Warschau eigene Stil des sozialistischen Realismus tritt in Konkurrenz mit dem allgegenwärtigen, rückwärtsgewandten Historismus und grenzt sich von der ornamentsparenden Vorkriegs-Moderne des Neuen Bauens ab, die ihre stilbildende Ausbreitung fortan im Westen Europas findet.

So lassen sich die einschlägigen einleitenden Kapitel von Reise- und Architekturführern, stadtgeschichtlichen Büchern über helle und dunkle Kapitel von Warschaus Historie sowie elektronische Informationsquellen in wenigen Sätzen zusammenfassen. Organisatorisch wie inhaltlich ergibt sich daraus die Frage, wie diese Vielschichtigkeit, die Gleichzeitigkeit und die Weiterentwicklung der Stadt in das Programm einer Exkursion von nur fünf Tagen gefasst werden kann?

Für die Vorbereitung der Exkursion naheliegend ist eine Untergliederung in Epochen, wobei, dem Fokus der Professur Entwerfen, Umbau und Denkmalpflege geschuldet, der Rückblick auf das 20. Jahrhundert begrenzt wird. Seit den 1920er Jahren nimmt Warschau eine herausragende Rolle der europäischen Architekturentwicklung ein, deren Reste trotz der flächendeckenden Zerstörung an Einzelbauten noch erkennbar sind. Die sogenannte Zwischenkriegszeit endet mit der Zerstörung in den 1940er Jahren. Gefolgt wird sie von der Epoche des ersten, schnellen Wiederaufbaus in den 1950er Jahren, während der sich der eigenständige Stil des sozialistischen Realismus entwickelt. Flächendeckender Siedlungsbau charakterisiert die 1960er Jahre. In den 1970er Jahren finden neue architektonische Gestaltungsmerkmale Niederschlag und indizieren eine Öffnung der sozialistischen Schale, die in den 1980er Jahren schließlich vollkommen aufbricht und einem internationalen Stadtbild Raum gibt.

Die Gruppe von 28 Studierenden wurde analog in fünf „Spezialisten-Gruppen“ unterteilt, deren erste Aufgabe darin bestand, die epochalen baulichen Details und folglich die fünf aussagekräftigsten Bauten der Zeitschicht herauszufiltern. Die in mehreren Besprechungsrunden getroffene Auswahl bildet die Grundlage der Faltmodelle, die aus vorhandenen Planunterlagen, publizierten Abbildungen und Umzeichnungen der Studierenden zu erstellen waren. Auf der Rückseite des „Bastelbogens“ finden sich die relevanten Informationen zum Gebäude und seiner Epoche. Gleichzeitig bildet die aus der Schwarmintelligenz der Studierenden resultierende Auswahl das Rückgrat der Besichtigungsroute, da möglichst viele Faltmodelle mit den realen Bauten abgeglichen werden sollten.

Ein zweiter wichtiger Block sind Experten vor Ort, die gefunden werden mussten, um in Führungen und Gesprächen Einblick in die stadtbaugeschichtlichen Entwicklungen und die denkmalpflegerischen Herausforderungen der Erhaltung zu geben. Jede Schicht der städtebaulichen Stratigraphie vom Wieder- bzw. Neuaufbau der Stadt bis hin zum zukünftigen Umgang wird adressiert: Das Büro der Stadtdenkmalpflege berichtet von den historischen Grundlagen und aktuellen Herausforderungen der Unterschutzstellung von Nachkriegsgebäuden. Das Museum of Modern Art stellt die Problematik der Umnutzung für ein modernes Kunstmuseum vor und gibt Einblick in die Hürden eines Museumsprojekts im Stadtkern. Im Rahmen einer Führung im Kulturpalast zeigten sich die Finessen des sozialistischen Realismus. Das nach langer Sanierungszeit wiedereröffnete Warschau-Museum zeugt von den aufwändigen Umbauarbeiten im Bestand, um den gestiegenen Ansprüchen der Besucher Rechnung zu tragen. In der Wirtschaftshochschule SGH findet sich ein gutes Beispiel für durchgängige Adaption der Bestands-Architektur und abschließend schärft das Heritage Interpretation Center den Blick für die Notwendigkeit der alltäglichen baulichen Pflege und die Wichtigkeit der öffentlichen Bewusstseinsprägung. Die symbolische Übersteigerung der Wiederaufbaugeschichte als Nachbau der Stadtansichten von Canaletto wird hier wissenschaftlich fundiert erweitert durch die tatsächlichen Quellen des Wiederaufbaus. Nicht zuletzt zeigt die (bau)künstlerische Intervention des „Keret-House“ (übersetzt: Einsiedelei) in einer Baufuge einen extremen Weg der Stadtverdichtung und gibt einen Denkanstoß für die Verbindung von Vergangenheit und Zukunft.

Aus den vielfältigen Puzzleteilen entstand in den Vorbereitungswochen ein buntes Gesamtbild, das sich, wie das Stadtbild, in Schichten aufbaut. Die Reise beginnt mit den Reminiszenzen der alten Zeit und den Ikonen der 1920er-Jahre-Hauptstadt von europäischem Rang. Differenziert betrachtet werden die Veränderungen zwischen der ersten Wiederaufbauphase der 1950er bis hin zu den 1970er Jahren der Stadtverdichtung. Den Abschluss bilden die jüngsten Bauten, die der polnischen Hauptstadt während und nach der Auflösung der politischen Blöcke ein neues Gesicht geben und den aktuellen Stadtumbau aufzeigen.

Das Weiterbauen der Städte ist eine der Zukunftsaufgaben des Bauwesens. Weiterbauen ist immer eine Gratwanderung zwischen Erhaltung der Substanz und Reaktion auf die zeitgemäßen Ansprüche an die Architektur, zwischen Tradition und Zukunft und zwischen Erneuerung und Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Vielleicht erträgt Warschau aufgrund seiner an Brüchen reichen Geschichte mehr Wandel, vielleicht ist die Heterogenität des Stadtbilds geduldiger als woanders. Ganz sicher ist Warschau ein Lehrstück für Parallelitäten von programmatischen Grundhaltungen: traditionsreiche Baukultur des Königreichs mit europäischer Vormachtstellung der frühen Hochhäuser, rekonstruierender Wiederaufbau mit sozialistischem Massenwohnungsbau und heute die geplante Unterschutzstellung zur Sicherung des Nachkriegsbestands mit dem Ausbau der Skyline, die den Kulturpalast als das Wahrzeichen des Sozialismus in ihrer Mitte verschwinden lassen soll.

Warschaus Weg ist gepflastert mit ausgeprägter Zeichenhaftigkeit vieler Bausteine und deren sozialgeschichtlicher Narrative. Geschichte wie Geschichten werden von Warschaus Bauten gleichrangig erzählt. Eine Haltung, die es mitzunehmen gilt und als Erfahrungsschatz den eigenen architektonischen Interventionen zu Grunde zu legen.

Elke Nagel
hat bereits Exkursionen nach Südfrankreich, Italien und Großbritannien geleitet. Sie ist Architektin, Denkmalpflegerin und Bauforscherin und lehrt seit 2007 an der TU München. Am dortigen Lehrstuhl für Baugeschichte, Historische Bauforschung und Denkmalpflege promovierte sie über mittelalterliche Klosterbauten. Als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Entwerfen, Umbau und Denkmalpflege, Prof. Andreas Hild, bereitete sie die Exkursion nach Warschau vor. Sie las rund zehn Bücher und saß nächtelang über Karten und Plänen, um die optimale Wegeverbindung zwischen den einzelnen Bauten zu finden. Es war ihr erster, aber sicher nicht letzter Besuch in Warschau.

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